Fundstück Nr. 27: Lena Gorelik „Wer wir sind“
„Wir“, das sind sie, Lena und ihre Familie, insbesondere die Eltern. Es ist ihre Geschichte, die Geschichte von dem kleinen Mädchen, das Anfang der 90er-Jahre aus Russland nach Deutschland kommt, mit den Eltern und neun Koffern, aber ohne die Großeltern, die weiteren Verwandten und ohne den Hund. Sie leben zunächst in einem Übergangswohnheim am Rande einer süddeutschen Großstadt – jüdisch, russisch, voller Erwartungen und etwas bange. Der Start fällt erwartungsgemäß nicht leicht: Das Kind ist zu klug für seine Mitschüler*innen, die Locken zu schwarz und ihr Zuhause nicht geeignet für Besuch. Wesentlich weniger ist schon genug, um ausgeschlossen zu werden. Jüdisch zu sein, das war schon in Russland ein Grund für Ausgrenzung, beruflich für die Eltern, beim Spielen für Lena.
Aber über dem allem, über der Geschichte der Migration, des Jüdischseins, der Kindheit im Übergangswohnheim liegen die Dinge, die auch für alle anderen Kinder bedeutsam sind, wo immer sie herkommen oder groß werden: das Sozialgefüge in der Peer Group, die Anerkennung der Gleichaltrigen – und das Entwachsen aus dem Elternhaus, das Sich-Entfernen von den Eltern, das schmerzlich abnehmende gegenseitige Verständnis.
Lena Gorelik teilt mit den Leser*innen ihre persönliche Geschichte des Abschieds und des Neuanfangs und erzählt dabei in einer sehr poetischen Sprache auch eine politische Geschichte der Migration. Lena Gorelik schreibt auf Deutsch – der Sprache, die sie als Zehnjährige gelernt hat. Und sie ist unseres Wissens die Erste, die den Gender Stern in die Belletristik eingeführt hat. „Irgendwer muss ja mal damit anfangen!“, sagt sie.